Hirnscan als BMI-Orakel für psychisch kranke Menschen
Mit einer simplen Standard-MRT-Aufnahme des Gehirns könnte sich künftig vorhersagen lassen, welche psychisch kranken Menschen nach ihrer Erstdiagose zunehmen werden und damit ihr Risiko für körperliche Erkrankungen erhöhen – und welche nicht.
„Damit könnten wir eine gezielte Prävention gegen eine häufig beobachtete Gewichtszunahme bei diesen Menschen starten“, sagt Prof. Dr. Nikolaos Koutsouleris von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des LMU Klinikums nach den Resultaten einer neuen Studie, an der zahlreiche Kooperationspartner aus dem In- und Ausland beteiligt waren. Die Ergebnisse sind gerade im Fachblatt Nature Mental Health erschienen.
In Deutschland sind knapp 18 Millionen Menschen von einer psychischen Erkrankung betroffen: Depression vor allem, aber beispielsweise auch Angststörungen oder Schizophrenie. Kaum bekannt ist, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen durchschnittlich zehn bis 15 Jahre früher sterben als der Rest der Bevölkerung.
Das Problem ist größtenteils begründet durch körperliche Leiden, vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die unter schwer psychisch Kranken überdurchschnittlich oft vorkommen.
„Deshalb“, erklärt Koutsouleris, „lohnt es sich, dass die Patienten auf Risikofaktoren wie Bewegungsmangel, Rauchen oder Übergewicht respektive Fettleibigkeit achten.“
Stichwort Übergewicht: Zwar wissen die Experten noch immer nicht zweifelsfrei, warum so viele psychisch Kranke zunehmen.
„Neben den bekannten Nebenwirkungen bestimmter Medikamente vermuten wir aufgrund einiger Befunde, dass das mit Gehirnveränderungen zu tun hat, die wiederum mit der psychischen Erkrankung zusammenhängen“, sagt Koutsouleris.
Lassen sich – im Sinne eines Orakels – diese Gehirnveränderungen nutzen, um bei der Erstdiagnose zu prognostizieren, bei welchen Betroffenen in der Folgezeit der Body-Mass-Index (BMI) steigen wird?
Schritt für Schritt zur Vorhersage
Um ein solches Orakel zu etablieren, hat ein internationales Team von Forschenden zunächst in einem ersten Schritt ein sogenanntes Machine-Learning-Modell erstellt. Will heißen: Die Wissenschaftler haben diese Art der Künstlichen Intelligenz mit MRT-Bildern von Gehirnen gesunder Menschen gefüttert. Das Modell sollte anhand der Hirnscans selbstständig lernen, das individuelle Gewicht der Personen zu bestimmen.
„Und unser Algorithmus schafft das recht gut“, sagt der Münchner Psychiater.
Zweiter Schritt: Die Forschenden haben ihr System angewendet auf die MRT-Hirnscans von Patienten mit psychischen Erkrankungen.
„In diesen Fällen hat unser Prognose-Modell systematische Fehler gemacht“, erklärt Koutsouleris, „es hat das Gewicht der dazugehörigen Patienten falsch ermittelt.“
Bei Vorliegen einer Schizophrenie zum Beispiel hat es das Gewicht überschätzt, weil bestimmte Hirnregionen dieser Menschen – zum Beispiel die vordere Großhirnrinde, in der Teile des Belohnungssystems verankert sind – kleiner sind als üblich. Dieses System steuert maßgeblich unser Essverhalten“, so Koutsouleris weiter, „und unser Vorhersagemodell hatte zuvor bei den gesunden Leuten gelernt: Weniger Volumen in diesen Gehirnregionen bedeutet höheres Gewicht.“
Schizophrenie-Patienten haben bei Erstdiagnose zwar kleinere Hirnvolumina, aber nicht zwingend einen höheren Body-Mass-Index (BMI).
Dritter Schritt: Die Forschenden haben ein Jahr lang den BMI der Patienten nach der Erstdiagnose und der anfänglichen Gewichtseinschätzung verfolgt
„Und da sehen wir, dass tatsächlich jene Patienten stark zunehmen, bei denen sich unser KI-Modell in Richtung eines zu hohen BMIs verschätzt hatte.“
Das ist vor allem bei Schizophrenie-, aber auch bei Depressionspatienten der Fall. Koutsouleris: „Die Differenz zwischen dem geschätzten und dem wirklich beobachteten BMI, der sogenannte BMI-Gap, hat eine Vorhersagekraft für die weitere Gewichtsentwicklung der Patienten.“
Der Nutzen für die Patienten
Mit diesem Orakel bietet sich die Chance einer gezielten Prävention, um eine zukünftige Gewichtszunahme zu verhindern.
„Wir können versuchen, die betreffenden Personen zu einem gesünderen Lebensstil zu bewegen, können zum Beispiel sagen: Versuchen Sie doch mal ein Gewichtsreduktionsprogramm, machen sie mehr Sport, ernähren Sie sich gesünder“, sagt der Psychiater, „oder wir können Medikamente wie Metformin geben, die das Risiko für Stoffwechselerkrankungen reduzieren oder verhindern. Damit wäre viel gewonnen, zumal es Hinweise gibt, dass mit weniger Gewichtszunahme Entzündungsprozesse im Gehirn weniger aktiv sind und damit auch weniger psychiatrische Symptome im Krankheitsverlauf einhergehen.“
Sobald das neue Tool durch zusätzliche Parameter wie die individuelle Genetik der Patienten oder Blutwerte wie Cholesterin etc. verfeinert und damit noch genauer ist, soll es allen Ärzten für die Bestimmung des BMI-Gap zur Verfügung gestellt werden.
Quelle:
Klinikum der Universität München - Mitteilung vom 20. Oktober 2025
Originalpublikation:
The BMIgap tool to quantify transdiagnostic brain signatures of current and future weight
Adyasha Khuntia, David Popovic, Elif Sarisik, Madalina O. Buciuman, Mads L. Pedersen, Lars T. Westlye, Ole A. Andreassen, Andreas Meyer-Lindenberg, Joseph Kambeitz, Raimo K. R. Salokangas, Jarmo Hietala, Alessandro Bertolino, Stefan Borgwardt, Paolo Brambilla, Rachel Upthegrove, Stephen J. Wood, Rebekka Lencer, Eva Meisenzahl, Peter Falkai, Emanuel Schwarz, Ariane Wiegand & Nikolaos Koutsouleris
Nature Mental Health (2025)
DOI: 10.1038/s44220-025-00522-3
https://www.nature.com/articles/s44220-025-00522-3
Weitere Informationen: https://www.lmu-klinikum.de/aktuelles/pressemitteilungen/hirnscan-als-bmi-orakel-fur-psychisch-kranke-menschen/bb165fc95559d40d