Stromsperren muss stärker entgegengewirkt werden

... eine Stellungnahme des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv)

Die Bezahlung hoher Energierechnungen, insbesondere der Stromrechnung, ist für viele Verbraucherinnen und Verbraucher1 ein Herausforderung. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Energiesperren können für die Betroffenen verheerend sein. Aus diesem Grund müssen Energieschulden vermieden und Energiesperren verhindert werden. Aufgrund der besonderen Eingriffswirkung für Haushaltskunden dürfen Energiesperren nur das letzte Mittel bei Zahlungsrückständen sein.

Das fordert die Verbraucherzentrale

Senkung des Strompreises durch eine Steuer-, Abgaben und Umlagenreform;  Sinkende Einkaufspreise sind zügig an die Haushaltskunden weiterzugeben. Wettbewerb im Sonderkundensegment muss gestärkt werden, damit hiervon auch ein Preisdruck auf die Grundversorgungspreise ausgeht;  Die Einnahmeseite der Haushalte mit geringem Einkommen ist an die Ausgabesteigerungen anzupassen, beispielsweise über eine dynamische Anpassung des ALG II-Regelsatzes;  In der Grundversorgungsverordnung sind Maßnahmen für einen besseren Schutz vor Stromsperren zu ergreifen;  Energieeffizienzmaßnahmen als nachhaltigste Kostenentlastung sind gezielt zu fördern;   Die Prozesse der Versorgungsunternehmen sind zu optimieren und Kooperationen zwischen Versorgern, Behörden, Verbrauchern und Beratungsstellen stärker zu fördern.

Der Zugang zu Energie stellt ein grundlegendes Element der Daseinsvorsorge und gesellschaftlichen Teilhabe dar.

Ohne Strom sitzen Menschen sprichwörtlich im Dunkeln, Elektrogeräte können nicht mehr genutzt werden, die Herdplatte, manchmal sogar Heizung und die Dusche bleiben kalt.  Steigende Energiepreise, stagnierende Einkommen und Sozialleistungen und teilweise niedrige Energiestandards im Wohnungsbestand führen dazu, dass eine relevante Zahl an Haushalten Probleme hat, ihre Strom- und Gasrechnung zu bezahlen. Betroffen sind insbesondere SGB II-Leistungsbezieher (ALG II), Geringverdiener und Rentner. Ebenfalls betroffen sind Studenten, Auszubildende, Bezieher von Arbeitslosen-, Kranken- oder Pflegegeld.  Nach den Erhebungen und Hochrechnungen der Bundesnetzagentur wurden im Jahr 2018 knapp fünf Millionen Stromsperren angedroht. Fast eine Million Stromsperren wurden beauftragt. Rund 300.000 Stromsperren wurden durchgeführt.

Auch wenn die Zahlen im Jahr 2018 gegenüber den Vorjahren leicht rückläufig sind, ist das Thema drängender denn je. Im Jahr 2020 hat der Strompreis in Deutschland einen Rekordwert erreicht. Die Erhöhung der EEG-Umlage und steigende Netzentgelte sind dafür die wesentlichen Kostentreiber.  Für Energiearmut sind multiple Ursachen verantwortlich. So vielfältig die Ursachen für Energiearmut sind, so notwendig ist es, zu ihrer Bekämpfung ressortübergreifende Strategien zu entwickeln. Erforderlich ist ein Zusammenwirken von Politik, kommunaler Verwaltung, Energiewirtschaft, Sozial- und Verbraucherverbänden. 

Ansatzpunkte zur Bekämpfung der Energiearmut sind sowohl die Ausgabenseite der Haushalte als auch die Einnahmeseite. Die Balance zwischen Ausgabeseite und Einnahmeseite gerade bei Haushalten mit geringem Einkommen muss in den Fokus gerückt werden. Daneben sind ein besserer rechtlicher Schutz vor Energiesperren, Energieeffizienzmaßnahmen sowie Prozessoptimierungen und Kooperationen zwischen Versorgern, Behörden, Verbrauchern und Beratungsstellen Bausteine der Prävention. 

Senkung des Strompreises durch eine Steuer-, Abgaben- und Umlagenreform

Die Aufwärtsspirale der Energiepreise muss entschärft werden. Die Strompreise für private Haushalte haben sich gegenüber dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Zwar soll der Strompreis im Rahmen des Klimapaketes ab 2021 gesenkt werden, gleichzeitig ist aber mit weiteren Erhöhungen durch steigende Netzentgelte zu rechnen. Die Strompreise müssen daher im Rahmen einer umfassenden Steuer-, Abgaben- und Umlagenreform deutlich gesenkt werden. Dazu gehören die steuerliche Finanzierung der besonderen Ausgleichregelung für die energieintensive Industrie bei der EEG-Umlage, die Reduzierung der Stromsteuer auf das mit den EU-Vorgaben vereinbare Minimum und die Abschaffung der Industrieausnahmen bei den Netzentgelten. Wenn es gelingt, den langfristigen Anstieg der Strompreise für die Haushaltskunden umzukehren, führen die sinkenden finanziellen Belastungen zu einer Entspannung bei den Pflichtausgaben eines Haushalts. Damit werden Geringverdiener besser in die Lage versetzt, notwendigen Verbindlichkeiten nachzukommen.

Sinkende Kostenbestandteile sind an die Haushaltskunden weiterzugeben

Generell ist darauf zu achten, dass sinkende Gestehungskosten der Energieversorger an die Haushaltskunden weitergereicht werden. Eine gesetzliche Pflicht, sinkende Kostenfaktoren an die Haushaltskunden weiterzureichen, ist hierfür erforderlich.

Eine entsprechende Pflicht hat der Bundesgerichtshof für Preisänderungsklauseln in AGB bereits aufgestellt. Danach sind Vorbehalte die Preise bei einem Anstieg von Preisbestandteilen erhöhen zu dürfen, nur zulässig, wenn die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zugleich eine Preissenkungspflicht bei Kostenreduzierungen der Preisbestandteile vorsehen2.  

Wenn sinkende Kostenfaktoren in der Vergangenheit nicht oder nicht in vollem Umfang an die Verbraucher weitergereicht wurden, zeigt das, dass offenbar kein ausreichender wettbewerblicher Preisdruck im Markt besteht. Damit fehlt auch ein Preisdruck auf die teuren Grundversorgungsangebote, über die die von Energiearmut betroffenen Haushaltskunden in der Regel versorgt werden.  Künftig wird die Frage sinkender Kostenfaktoren beim Strompreis insbesondere für die EEG-Umlage relevant.

Ersparte Kosten für aus dem Modell der EEG-Umlage auslaufende teure Erzeugungsanlagen müssen an die Verbraucher weitergegeben werden.  Auch die Partizipation der Haushalte an sinkenden Kostenbestandteilen führt zu einer Entspannung bei den Pflichtausgaben eines Haushalts, so dass Verbindlichkeiten leichter nachgekommen werden kann.   

Die Einnahmeseite der Haushalte ist an die Ausgabesteigerung anzupassen, beispielsweise über eine dynamische Anpassung des ALG II-Regelsatzes

Die Sozialleistungen und Reallöhne hielten in der Vergangenheit mit der Strompreisentwicklung nicht Schritt. Der Regelsatz für Menschen mit Grundsicherungsbezug berücksichtigt Stromkosten nicht explizit, sondern deckt ihn lediglich pauschal ab. Verschiedene Untersuchungen belegen, dass in den Regelleistungen des SGB II Energiekosten nicht ausreichend berücksichtigt werden3.

Dabei hängt die Höhe der Stromkosten insbesondere vom Preis des jeweiligen Stromtarifs ab. Haushalte mit geringem Einkommen haben aber aufgrund ihrer Bonitätsbewertung häufig keine Möglichkeit, aus dem teuren Grundversorgungstarif in einen günstigeren Sondertarif zu wechseln.  Es muss deshalb sichergestellt werden, dass Stromkosten innerhalb oder außerhalb der Regelsätze zur Grundsicherung der Höhe nach ausreichend berücksichtigt werden.

Insbesondere muss eine Dynamisierung erfolgen. Die Stromkostenpauschale muss regelmäßig und zeitnah der Entwicklung der Stromkosten angepasst werden. 

Der vzbv fordert die Stromkosten bedarfsgerecht abzubilden. Zudem muss die Pauschale für Haushaltsenergie entsprechend der Preisentwicklung auf dem Energiemarkt, dynamisch nachgeführt werden. 

Novellierung des § § 19 der Stromgrundversorgungsordnung
Die normativen Voraussetzungen einer Stromsperre in der Grundversorgungsverordnung sind anzupassen. Umstände, die von den Energielieferanten und Netzbetreibern im Rahmen der Härtefallprüfung zu berücksichtigen sind, sind in Regelbeispielen zu normieren, um die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Praxis zu erhöhen.

 Auch Umstände sind zu normieren, die zu einem Ruhen des Sperrverfahrens führen müssen.

Das gilt insbesondere, wenn der Verbraucher einen ernsthaften Klärungsprozess eingeleitet hat. Hierzu gehört auch die Einleitung eines Clearingprozesses über eine Beratungsorganisation.  Zudem ist verbindlich zu regeln, dass der Abschluss einer Ratenzahlungsvereinbarung zur Aufhebung der Sperre führen muss (anders § 19 Abs. 3 GVV).    

Der Schwellenwert für eine Stromsperre von 100,00 Euro ist fast 15 Jahre nicht angepasst worden und sollte entsprechend angehoben werden.  Die Höhe von Gebühren und Nebenforderungen infolge von Energieschulden verschärfen vielfach den Schuldensog. Deshalb sind die Mahn- und Folgekosten zu deckeln.
 
VZBV-POSITION
Der vzbv fordert den § 19 StromGVV entsprechend zu novellieren.  
 
Energieeffizienzmaßnahmen als nachhaltigste Kostenentlastung sind gezielt zu fördern

Energieeffizienzmaßnahmen bieten die nachhaltigste Kostenentlastung. Sie sind auf zwei Wegen zu fördern. Durch Beratung und Information können Verhaltensänderungen erreicht werden. Finanzielle Unterstützungen können die gezielte Marktdurchsetzung energieeffizienter Geräte in Haushalten mit geringem Einkommen fördern. Beide Maßnahmen können für finanzielle Entlastung sorgen, so dass die Haushalte ihren Verpflichtungen gegenüber den Energieversorgern besser nachkommen können.  
 
VZBV-POSITION
Der vzbv fordert die gezielte Förderung energieeffizienter Maßnahmen für Menschen mit geringem Einkommen.  
 
Die Prozesse der Versorgungsunternehmen sind zu optimieren und Kooperationen zwischen Versorgern, Behörden, Verbrauchern und Beratungsstellen zu verbessern

Auf der Prozessebene haben es Energieversorger durch ihre Tarif- und Nebenkostengestaltung, ihre Informationspolitik, die Ausgestaltung ihres Mahnwesens und die Ausgestaltung ihres Forderungsmanagements entscheidende Steuerungselemente, Energieschulden und -sperren entgegenzuwirken.

Die Höhe von Nachzahlungen, Fälligkeitstermine, die nicht mit den Überweisungsterminen der Jobcenter synchronisiert sind, teure aber nicht zu realisierende Mahnprozesse und die Verrechnung eingehender Zahlungen auf Außenstände bei gleichzeitiger kostenpflichtiger Mahnung des aktuellen Abschlags entfalten häufig eine Relevanz für Energieschulden.  

Eine intensive Kooperation und kurze Kommunikationswege zwischen Energieversorgern, Sozialbehörden, Verbrauchern und Beratungsstellen können Energiesperren vermeiden helfen, wie die Erfahrungen der insbesondere in Nordrhein-Westfalen laufenden Projekte zwischen Energieversorgern und Verbraucherzentrale NRW belegen4.  

VZBV-POSITION
Der vzbv fordert, für Menschen mit geringem Einkommen Projekte stärker zu fördern, die Kooperationen und Prozesse zwischen Versorgern, Behörden, Verbrauchern und Beratungsstellen verbessern.  
 
Umfassendere Datenerfassung und Analyse zur Energiearmut

Ausmaß und Ursachen von Energiearmut sowie verschärfende Faktoren werden in Deutschland derzeit nicht ausreichend quantifiziert. Der Monitoringbericht der Bundesnetzagentur gibt zwar Aufschluss über die Anzahl der durchgeführten Energiesperren in Deutschland.

Darüber hinaus kann er keine Angaben zu der Anzahl der tatsächlich betroffenen oder besonders gefährdeten Menschen machen. Insoweit ist die Erhebung von Sperrzahlen in der Energieversorgung nur ein Indikator von mehreren, der zur Analyse der Ist-Situation ausgewertet werden muss.  

Dementsprechend bedarf es künftig einer gebündelten Datenerhebung und -analyse, die das Thema Energiesperren im Kontext zu Erwerbsstatus, Einkommenshöhen, Armutsgefährdung, energetische Wohnungsstandards sowie weiteren soziodemographischen Daten der Betroffenen bewertet. Nur so werden perspektivisch relevante Kausalzusammenhänge hergestellt, um zielgerichtet Gegenmaßnahmen zu entwickeln5.

Die Zahlen aus dem Projekt „NRW bekämpft Energiearmut“ weisen beispielsweise darauf hin, dass originäre Leistungsbezieher nach dem SGB II und SGB XII den Schwerpunkt der betroffenen Haushalte in NRW mit zusammen 47 Prozent bilden.

Darüber hinaus stellen aber auch Erwerbstätige (27 Prozent) und Rentner (11 Prozent) relevante Gruppen. Auch weisen die Zahlen auf eine stärkere Betroffenheit von Einpersonenhaushalten und Alleinerziehenden hin6.  

Im Rahmen eines nationalen Aktionsplans ist deshalb die Verifizierung der Betroffenen und der Gründe für Energiearmut zu fördern, um künftig auf der Grundlage noch differenzierteren statistischen Materials zielgenauer gegen Energiearmut und insbesondere Stromsperren vorgehen zu können.  

VZBV-POSITION
Der vzbv fordert, im Rahmen eines nationalen Aktionsplans die Verifizierung der Betroffenen und der Gründe für Energiearmut stärker zu fördern
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1 Die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche und männliche Personen. Wir bitten um Verständnis für den weitgehenden Verzicht auf Doppelbezeichnungen zugunsten einer besseren Lesbarkeit des Textes.

2 Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl., 2020, § 309 Rn. 8  3  https://www.verbraucherzentrale.nrw/sites/default/files/2018-06/VZ-NRW_Strompauschale-HartzIV_FINAL.pdf;  https://www.verbraucherzentrale.nrw/pressemeldungen/presse-nrw/hartzivdeckungsluecke-bei-strom-groesser-als-oft-angenommen-26912 Untersuchung des Deutschen Caritasverbandes, des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Stromspar-Check PLUS im Jahr 2015; Paritätische Forschungsstelle (2016): Expertise Regelsätze 2017  

https://www.verbraucherzentrale.nrw/sites/default/files/2018-06/VZ-NRW_Strompauschale-HartzIV_FINAL.pdf;  https://www.verbraucherzentrale.nrw/pressemeldungen/presse-nrw/hartzivdeckungsluecke-bei-strom-groesser-als-oft-angenommen-26912 Untersuchung des Deutschen Caritasverbandes, des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Stromspar-Check PLUS im Jahr 2015; Paritätische Forschungsstelle (2016): Expertise Regelsätze 2017  

 4 https://www.verbraucherzentrale.nrw/sites/default/files/2019-11/Herausforderungen_und_uebergeordnete_Handlungsbedarfe_bei_Energiearmut.pdf

5 https://www.verbraucherzentrale.nrw/pressemeldungen/presse-nrw/energiearmut-muss-besser-messbarwerden-42097

6 https://www.verbraucherzentrale.nrw/sites/default/files/2020-01/Energiearmut_Kurzauswertung_Stand_30_06_2019.pdf