Multiple Sklerose ist kein Todesurteil!

Was ist die Autoimmunerkrankung und wie ist sie heute behandelbar

Wichtige Informationen dazu erhalten Sie in einem Experteninterview mit Dr. Mimoun Azizi, Chefarzt der Klinik für Neurogeriatrie im Allgemeinen Krankenhaus Celle

Was ist Multiple Sklerose?

Dr. Azizi: „Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des  zentralen Nervensystems. Sie betrifft das Gehirn sowie auch das Rückenmark. Da die Krankheit individuell sehr unterschiedlich verläuft, wird sie auch die ,Krankheit mit den 1.000 Gesichtern‘ genannt. In Deutschland gibt es circa 250.000 Betroffene – weltweit wird die Zahl auf etwa 2,5 Millionen geschätzt.“

In welchem Alter tritt die Krankheit am häufigsten auf?

Dr. Azizi: „MS ist altersunabhängig. Allerdings können wir sagen, dass die Krankheit vor allem bei jüngeren Menschen diagnostiziert wird und sich im Alter um das 30. Lebensjahr herum manifestiert. Dass die Krankheit immer früher erkannt werden kann, liegt vor allem an einer verbesserten Diagnostik, die uns Ärzten weitreichendere Möglichkeiten der Diagnosestellungbietet.“

Wer ist besonders gefährdet?

Dr. Azizi: „An Multipler Sklerose erkranken Frauen ungefähr doppelt so häufig wie Männer (1). Die Erkrankung zeigt sich meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Deutlich seltener tritt sie bereits im Kindes- und Jugendalter auf.“

Welche Ursachen sind bekannt?

Dr. Azizi: „Der Ursprung der Erkrankung ist bisher noch nicht eindeutig geklärt. Wir wissen, dass sich das Immunsystem gegen die eigenen Nervenzellen richtet. Der Körper greift Zellen im Gehirn und Rückenmark an, was zu einer Entzündung der Nerven führt. Wieso diese Reaktion entsteht, wissen wir aber noch nicht.“

Gibt es typische Symptome?

Dr. Azizi: „Die MS ist wandelbar wie ein Chamäleon, was sie sehr schwer zu fassen macht. Sie kann die unterschiedlichsten Symptome auslösen: von Taubheitsempfinden in den Gliedmaßen, über Sehstörungen, Konzentrationsbeschwerden, Schwindelanfälle, Darmstörungen sowie Gedächtnis- und Sprachstörungen, bis hin zu erheblichen Gehbehinderungen.

Obwohl sie so unvorhersehbar ist und sich die individuellen Krankheitsverläufe stark unterscheiden, gibt es viele Möglichkeiten der Behandlung. Je früher die MS erkannt wird, desto besser kann sie therapiert werden. Zwar ist sie noch nicht heilbar, aber in vielen Fällen gut behandelbar.“

Wie stellt der Arzt MS fest?

Dr. Azizi: „Es bedarf einer umfassenden Anamnese – zum einen einer genauen Erfassung der  Krankheitsgeschichte sowie weiterer Untersuchungen der neurologisch-körperlichen Funktionen, einer Lumbalpunktion (Nervenwassergewinnung) oder einer Magnetresonanztomografie (MRT).

Aus der Gesamtheit der Untersuchungsergebnisse heraus wird dann die Diagnose gestellt. Bis zu einer eindeutigen Einordnung kann es aber mitunter Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern.“

Verläuft die Krankheit in Phasen?

Dr. Azizi: „Es gibt drei Formen der MS, die zumeist auftreten können: Zum einen die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS), die überwiegend zu Krankheitsbeginn auftritt.

Im längeren Verlauf geht diese Form häufig in die sekundär chronisch-progrediente Multiple Sklerose (SPMS) über, die nach mehr als 20 Jahren circa 90 Prozent der Patienten aufweisen (2).

Bei einem Zehntel der Betroffenen zeigt sich von Beginn an die primär chronischprogrediente Multiple Sklerose, die sich durch eine langsame Verschlechterung ohne klare Schübe definiert. Für die RRMS und SPMS gibt es heute schon sehr gute Medikamente, die eine hohe Lebensqualität trotz der Krankheit ermöglichen.“

Welche Therapien gibt es heute, welche Rolle spielt die Antikörper-Therapie?

Dr. Azizi: „Seit Januar 2020 gibt es die erste orale Therapiemöglichkeit zur Behandlung von SPMS – der Wirkstoff Siponimod kann z. B. die kognitive Leistungsfähigkeit länger erhalten.

Die Antikörpertherapie gehört zu den neueren Therapien und zeichnet sich durch ihre spezifische, selektive Behandlung aus. Diese Therapieform setzt gezielt an den aktivierten Lymphozyten an, so dass – anders als bei einer Chemotherapie – eine Grundimmunität erhalten bleibt.“

Was können Betroffene selbst tun?

Dr. Azizi: „Die Diagnose MS ist natürlich zunächst ein Schock für die Betroffenen. Generell helfen aber eine positive Grundeinstellung und Selbstbewusstsein.

Suchen Sie sich einen spezialisierten Facharzt, der Sie begleitet. Hier können sich Betroffene intensiv über die Krankheit und therapeutische Optionen informieren lassen. Es hilft, mit der Erkrankung offen umzugehen und auch Familie und Bekannte mit einzubeziehen. Das nimmt eine große Last von den eigenen Schultern und gemeinsam ist man stärker gegen MS.

Darüber hinaus ist es empfehlenswert, weiter körperlich aktiv zu bleiben – ohne sich dabei aber zu übernehmen. Auch Gedächtnistraining, wie z. B. Gehirnjogging, ist eine gute Option, die eigene Kognition länger aufrecht zu erhalten und positiv zu beeinflussen.“

Landet jeder Patient im Rollstuhl?

Dr. Azizi: „Nein, das ist eine oft geäußerte Befürchtung, aber letztlich nur ein Vorurteil, das so nicht korrekt ist.

Zwar kann es dazu kommen, dass Patienten aufgrund ihrer Beschwerden auf einen Gehstock oder Rollator oder sogar Rollstuhl angewiesen sind, aber dies ist nicht die Norm. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je früher Patienten reagieren, sich untersuchen lassen und eine passgenaue Therapie erhalten, desto größer sind die Aussichten auf ein langes rollstuhlfreies Leben.“

Ist bei guter Therapie ein fast normales Leben möglich?

Dr. Azizi: „Die Kombination aus einer individuell passgenauen Therapie und einem stabilen sozialen Umfeld ermöglicht es den Betroffenen, gut mit der Erkrankung leben zu können.

Auch das so weit wie mögliche Aufrechterhalten der physischen und mentalen Aktivität ist, wie bereits erwähnt, ein wichtiger Punkt. Zusätzlich können Verbände, wie die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (dmsg) eine gute Anlaufstelle sein, um sich zu informieren und mit anderen Betroffenen auszutauschen und zu verbinden.“

Welche Rolle spielt Vitamin D in der Behandlung von Multipler Sklerose?

Dr. Azizi: „Vitamin D scheint bei der MS eine entscheidende Rolle zu spielen. Denn je näher Menschen am Äquator leben desto seltener tritt Multiple Sklerose bei ihnen auf. Diese Tatsache ist höchst interessant.

Daraus könnte man schlussfolgern, dass MS unter anderem die Folge eines chronischen Vitamin-D-Mangels sein könnte.

Bereits 2006 wurde im Journal of the American Medical Association (JAMA 2006; 296: 2832-2838) eine Studie veröffentlicht, die den Zusammenhang zwischen dem Vitamin-D-Spiegel im Blut und MS verdeutlichte.

Es gibt Hinweise, dass Vitamin D sowohl die Schubrate als auch die herdförmige Zerstörung der Markscheiden im Gehirn (Entmarkungsherde) reduzieren könnte. Daher wird MS-Patientenauch die Einnahme von Vitamin D empfohlen.“

Welche Rolle spielen sportliche Aktivitäten bei der MS-Therapie?

Dr. Azizi: „Sportliche Aktivitäten, wie Joggen oder Schwimmen, stärken längerfristig das Immunsystem. Dazu kommt noch die Stärkung der Muskulatur und die Verbesserung der Koordination – was bei Patienten mit MS sehr wichtig ist, um einer Progression der Erkrankung entgegenzuwirken.

Nicht zu vergessen, dass bei sportlichen Aktivitäten sogenannte Glückshormone wie Serotonin, Dopamin und Noradrenalin freigesetzt werden, die bei der Bewältigung von Depressionen eine große Rolle spielen.

Wir wissen, dass viele Menschen, die an Multipler Sklerose erkranken, auch psychisch stark leiden. Nicht wenige werden depressiv.

Daher sind sportliche Aktivitäten auch in diesem Bereich sehr hilfreich, da durch die Freisetzung der genannten Hormone im Gehirn einer depressiven Erkrankung entgegengewirkt werden kann.“

Und wie sieht es mit der Ernährung aus?

Dr. Azizi: „Auch das Zusammenspiel von Ernährung, Darmflora und Immunsystem hat einen Einfluss auf die Krankheit.

Man geht davon aus, dass die Darmflora auf die MS einwirkt – und zwar beim Entstehen der Erkrankung sowie vielleicht auch bei deren Fortschreiten.

Entscheidend ist hier die Ernährungsgewohnheit. Studien zeigen, dass eine gesunde Ernährung mit viel Olivenöl, Fisch und Omega-3-Fettsäuren – wir sprechen hier von der mediterranen Küche – von Vorteil ist.

Seit beispielsweise in Japan ein westlicherer Lebensstil Einzug gehalten hat, ist dort auch die Zahl der MS-Erkrankungen angestiegen.

Das deutet darauf hin, dass eine gesunde Ernährung in der Reduktion von Schüben und hinsichtlich einer Progression der Erkrankung eine wichtige Rolle spielen könnte und womöglich auch in der Entstehung.

Deshalb meine Empfehlung: treiben Sie Sport in Maßen, aber regelmäßig und ernähren sie sich gesund!“

Wir bedanken uns für das Interview, das uns von der Agentur ABC HEALTHCARE GmbH & Co. KG  zur Verfügung gestellt wurde


1 Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e. V. (https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/was-istms/); [Stand 2021])

2 Schmidt, Manfred und Frank A. Hoffmann, Hrsg.: Multiple Sklerose, 7. Aufl. München: Urban & Fischer, 2017.