ADHS bei Frauen

Verkannt, verdrängt, fehlinterpretiert

Zum Internationalen ADHS-Tag am 13. Juli rückt ein Thema in den Fokus, das noch immer zu wenig Beachtung findet: ADHS bei erwachsenen Frauen. 

Die Symptome sind kaum sichtbar – das Leid dafür sehr groß.

Prof. Dr. med. Petra Beschoner, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin sowie Ärztliche Leiterin der Akutklinik Bad Saulgau, erklärt im Interview, woran betroffene Frauen ADHS erkennen können – und warum die Diagnose für viele einen Wendepunkt darstellt.

ADHS galt lange als „Zappelphilipp-Syndrom“ bei Jungen. Warum ist dieses Bild überholt und was sind die häufigsten Missverständnisse?

Prof. Beschoner: „ADHS wird noch immer fälschlich als Erziehungsproblem oder gar Modeerscheinung abgetan – dabei handelt es sich um eine chronische, neurobiologische Störung, die mit Aufmerksamkeitsproblemen, Impulsivität und innerer Unruhe einhergeht. 

Sie betrifft Menschen unabhängig von Intelligenz oder sozialem Hintergrund – und eben auch viele Mädchen und Frauen. 

Das Problem: Ihre Symptome sind häufig weniger laut, sondern nach innen gerichtet – etwa als Tagträumerei, emotionale Instabilität oder ständiges Gedankenkreisen. 

Viele Mädchen lernen früh, still zu sein, zu funktionieren, sich anzupassen. Das verschleiert die Problematik oft bis weit ins Erwachsenenalter. 

Ein weiteres Missverständnis ist die Annahme, ADHS ‚verwachse‘ sich. Die Symptome verändern sich zwar mit dem Alter, verschwinden aber nicht.“

Wie äußert sich ADHS bei erwachsenen Frauen?

Prof. Beschoner: „Die Symptome sind bei Erwachsenen anders ausgeprägt als bei Kindern. Viele Frauen erleben innere Unruhe, Konzentrationsprobleme, emotionale Überforderung und ein Gefühl ständiger Getriebenheit.

Es fällt schwer, Prioritäten zu setzen, Aufgaben zu strukturieren oder zu Ende zu bringen. Im Alltag zeigt sich das so: Die E-Mail ist angefangen, wird aber nie abgeschickt. Die Wohnung sieht aufgeräumt aus – aber im Kopf herrscht Chaos. 

Termine werden vergessen, obwohl man sich ständig Listen schreibt. 

Nach außen wirken viele Betroffene perfekt organisiert – innerlich aber brennt alles. Diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein ist extrem belastend und mündet nicht selten in Erschöpfung, Selbstzweifeln oder Burn-out.“

Warum bleibt ADHS bei Frauen so häufig unerkannt?

Prof. Beschoner: „Die Diagnostik orientiert sich noch immer stark an dem ‚klassischen‘ männlichen Erscheinungsbild – also an Hyperaktivität oder auffälligem Verhalten.

Frauen neigen eher zur stillen Überforderung, kompensieren durch Kontrolle, Perfektionismus, überhöhte Anpassung. Die Hyperaktivität zeigt sich nicht durch Bewegung, sondern als innere Anspannung, verbunden mit Tagträumerei, Schlafproblemen oder starkem Rückzugsverhalten. 

Bis sie die Diagnose erhalten, haben sie oft einen langen Leidensweg hinter sich, geprägt von Fehldiagnosen wie Depression oder Angststörung.“

Wie kann eine Frau erkennen, ob sie selbst ADHS hat?

Prof. Beschoner: „Typische Warnzeichen sind unter anderem Konzentrationsschwierigkeiten, chaotische Tagesstrukturen, Impulsivität, emotionale Instabilität und ein ausgeprägtes Gefühl des ‚Andersseins‘.

Frauen mit ADHS erleben sich häufig als Getriebene, glauben, ständig zu versagen oder nicht zu genügen – obwohl sie viel leisten. 

Frauen mit ADHS sagen Sätze wie: ‚Ich funktioniere nur noch.‘ Oder: ‚Ich gebe mir so viel Mühe, aber es reicht nie.‘ 

Auch wiederkehrende Konflikte in Partnerschaft oder am Arbeitsplatz, Stimmungsschwankungen oder selbstschädigendes Verhalten können Hinweise sein. Wenn solche Belastungen über längere Zeit das Leben beeinträchtigen, ist eine fachärztliche Abklärung dringend ratsam.“

Wie kann ADHS behandelt werden?

Prof. Beschoner: „Wir wissen heute, dass der multimodale Therapieansatz am erfolgreichsten ist. Das bedeutet: eine Kombination aus Psychoedukation, kognitiver Verhaltenstherapie und – falls erforderlich – medikamentöser Unterstützung. Medikamente wie Methylphenidat oder Atomoxetin helfen vielen Patientinnen dabei, ihre Konzentration und Impulskontrolle zu verbessern. 

Genauso wichtig ist aber, dass Frauen lernen, mit sich selbst mitfühlender umzugehen. Struktur im Alltag, bewusste Pausen, das Erkennen eigener Grenzen – das alles sind entscheidende Schritte zur Stabilisierung. Auch digitale Tools, Selbsthilfegruppen oder Coaching-Angebote können sehr hilfreich sein. Wichtig ist: Die Behandlung richtet sich nach dem individuellen Leidensdruck und den Lebensumständen – nicht nach einem starren Schema.“

Welche Rolle spielen hormonelle Veränderungen wie Pubertät, Schwangerschaft oder Wechseljahre?

Prof. Beschoner: „Diese Phasen können die ADHS-Symptomatik deutlich verschärfen. Hormonelle Schwankungen wirken sich auf die Reizverarbeitung und emotionale Stabilität aus – das kann zu intensiveren Stimmungsschwankungen, Konzentrationsproblemen und innerer Unruhe führen. 

Leider werden diese Veränderungen häufig falsch eingeordnet – etwa als Depression oder klassische Erschöpfungsreaktion. Deshalb ist es entscheidend, in der Diagnostik auch geschlechtsspezifische Faktoren bewusst zu berücksichtigen.“

Warum ist es so wichtig, über ADHS bei Frauen aufzuklären?

Prof. Beschoner: „Weil es ein stilles Leiden ist. Viele Frauen leben über Jahre oder Jahrzehnte mit dieser inneren Belastung – und suchen Erklärungen bei sich selbst, nicht in einer zugrunde liegenden Störung. 

Das führt zu Selbstzweifeln, Burn-out, Beziehungsproblemen, Suchtproblematiken und im schlimmsten Fall zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Die Diagnose kann eine enorme Erleichterung sein – ein erster Schritt zu mehr Selbstverständnis, Stabilität und Lebensqualität.“

Weitere Informationen unter www.akutklinik-badsaulgau.de