Wie durch Umprogrammierung von Zellen schädliche Proteine abgebaut und Krankheiten bekämpft werden können
Das kleine Protein Ubiquitin kommt in den Zellen fast aller Organismen vor; wie sein Name widerspiegelt, ist es ubiquitär.
ür die Entdeckung, dass es an der zellulären Entsorgung nicht mehr benötigter und fehlerhafter Proteine beteiligt ist, gab es 2004 den Chemie-Nobelpreis.
Zusammen mit Partnern innerhalb des Zukunftsclusters PROXIDRUGS nutzt Ivan Đikić diese Erkenntnisse, um Zellen umzuprogrammieren, die bei neurodegenerativen Krankheiten, Infektionen oder Krebs im Zentrum stehen. Gemeinsam verfolgen Forscherinnen und Forscher das Ziel, auf diesem Weg neuartige Medikamente gegen die Leiden zu finden.
Viele Krankheiten entstehen durch Mutationen, die dazu führen, dass ein Protein unzureichend arbeitet oder sogar komplett fehlt.
Es gibt aber auch Krankheiten, deren Ursache in einem Zuviel besteht
Auch ein zu vermehrt vorliegendes oder überaktives Protein kann krank machen. Gerade bei Krebserkrankungen wird das ungezügelte Zellwachstum meist durch zu aktive Signalwege oder Regulatoren der Zellteilung vermittelt.
Eine Möglichkeit, um das Wachstum von Krebszellen zu unterdrücken, ist die Hemmung der betreffenden zellulären Komponenten. Häufig geschieht dies durch spezifische Hemmstoffe – kleine Wirkstoffmoleküle, die sich durch ihre dreidimensionale Struktur genau an das aktive Zentrum eines Enzyms oder die Bindestelle eines Regulators heften und so dessen krank machende Aktivität unterbinden.
Allerdings stößt die Medizin mit diesem Ansatz häufig an ihre Grenzen. Oft sind keine spezifischen Hemmstoffe bekannt, weshalb mittlerweile systematisch nach solchen Substanzen gesucht wird (siehe auch »Werkzeugkasten für neue Arzneistoffe«, Seite 57). Darüber hinaus besitzen viele Proteine keine geeigneten Bindungsstellen für Hemmstoffe. Mehr als drei Viertel aller bekannten Proteine gelten daher als »undruggable«, also durch Medikamente nicht beeinflussbar.
Ein neuer Therapieansatz verzichtet ganz auf klassische Hemmstoffe. Stattdessen setzt er darauf, das zelluläre Abfallsystem umzuprogrammieren und krank machende Proteine durch die Zelle selbst beseitigen zu lassen. Dieser Ansatz funktioniert nicht nur bei überaktiven oder in zu großer Menge gebildeten Proteinen, sondern auch bei solchen, die aufgrund einer falschen Struktur oder Funktion Schaden anrichten.
Beispiele hierfür sind die Bestandteile der Aggregate, die bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson als »Plaques« Nervenzellen in den Tod treiben.
Wertstoff-Recycling in der Zelle
Aber wie lässt sich ein Protein in einer Zelle möglichst spezifisch abbauen? Ivan Ðikic´ möchte sich hierfür das zelleigene »Ubiquitin«-Recyclingsystem zunutze machen.
Der kroatische Mediziner und Biochemiker erforscht seit Langem das kleine Protein Ubiquitin, das in allen höheren Lebewesen vorkommt und die Kernkomponente eines zellulären Abfallsystems bildet. Dieses sogenannte Ubiquitin-Proteasom-System (UPS) zerlegt Proteine in ihre Bestandteile – die Aminosäuren – und führt diese dem zellulären Recycling zu: Die Zelle kann die Aminosäuren für die Herstellung neuer Proteine nutzen.
Das UPS ist nicht das einzige Recyclingsystem der Zelle, doch es entsorgt auffallend viele Proteine, die eine Rolle bei der Entstehung von Krebs spielen. Auch Ðikic´ ist über eine Gruppe solcher krebsfördernder Proteine erstmals mit Ubiquitin in Kontakt gekommen. »In meiner Doktorarbeit habe ich untersucht, wie überaktive Rezeptoren für Wachstumsfaktoren zur Entstehung von Krebs beitragen. Gesteuert werden diese Rezeptoren unter anderem durch Ubiquitin.« Tatsächlich finden sich bei Tumorarten und auch bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen Defekte im zellulären Abfallsystem.
Das »Kann-weg«-Etikett
Aber das kleine Protein könne noch viel mehr als nur den Abbau von Proteinen vermitteln, fährt der Forscher fort: »Es ist an der Regulation vieler wichtiger Prozesse in der Zelle beteiligt. Deshalb wird seine Erforschung nie langweilig, und es kommt immer wieder zu neuen, überraschenden Entdeckungen.« Noch relativ neu ist die Erkenntnis, dass Bakterien und Viren, die selbst kein Ubiquitin besitzen, das System ihrer Wirtszellen missbrauchen können, um deren Immunantwort zu schwächen.
Ubiquitin kann man sich als eine Art Etikett vorstellen: Indem es an ein Protein gehängt wird, teilt es der zellulären Maschinerie mit, was mit diesem Protein geschehen soll. Angeheftet wird Ubiquitin immer an geeignete Aminosäuren in den Zielproteinen, die eine chemische Gruppe für die Verknüpfung bereitstellen.
Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Ubiquitin kann als einzelnes Molekül oder in Form unterschiedlich verzweigter Ubiquitin-Ketten an ein Protein geheftet werden.
Die Forschenden sprechen von einem Code, mit dem durch die Art der Verknüpfung und Verzweigung der angehängten Ubiquitinketten unterschiedliche Effekte in der Zelle ausgelöst werden. Um als Abbausignal zu dienen, müssen Ketten aus mehreren Ubiquitin-Einheiten übertragen werden, die auf eine ganz bestimmte Art und Weise verknüpft sind.
Derart markierte Proteine werden von einem zentralen Bestandteil des UPS, dem Proteasom, erkannt. Hierbei handelt es sich um eine Art Zylinder, an dessen Innenwand mehrere Enzyme angebracht sind und das wie ein Schredder arbeitet.
Das UPS ist ein wichtiges Qualitätssicherungssystem der Zelle. Schon lange sei bekannt, dass der Ausfall dieses Systems dazu führe, dass Zellen geschädigt würden und Krankheiten entstünden, erklärt Ðikic´: »Die intensive Forschung zum UPS hat aber auch dazu geführt, dass wir erkannt haben, dass Ubiquitin sich als mächtiges Werkzeug nutzen lässt, um krank machende Proteine gezielt zu entfernen.«
Erzwungene Nähe
Den gezielten Abbau von spezifischen Proteinen mittels UPS ermöglichen sogenannte proximitätsinduzierende Wirkstoffe (kurz Proxidrugs von proximity-inducing drugs).
Die Idee dahinter ist eigentlich ganz einfach, wie der Biochemiker erklärt
»Man führt die Übertragung von Ubiquitinketten auf das Zielprotein herbei und markiert es so für den Proteasom-Schredder.« Für die Markierung bringt man das Zielprotein mithilfe eines Wirkstoffs in direkte räumliche Nähe zum Ubiquitin-übertragenden Protein, der Ubiquitin-E3-Ligase. Zu diesem Zweck können Proxidrugs unterschiedlich aufgebaut sein. Am weitesten entwickelt sind bisher PROTACs (proteolysis targeting chimeras) und molekulare Klebstoffe (molecular glues).
»Der bekannteste molekulare Klebstoff ist Thalidomid, der Wirkstoff, der durch das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan in Verruf geraten ist«, erläutert Ðikic´. »Heute wissen wir, dass Thalidomid sehr gut gegen das multiple Myelom wirkt.«
Mittlerweile versteht man besser, wie das kleine Molekül Thalidomid wirkt – es bindet an eine Ubiquitin-E3-Ligase, kann so beispielsweise deren Funktion umprogrammieren und den Abbau anderer Proteine auslösen.
Beim multiplen Myelom sind Signalproteine, Transkriptionsfaktoren, für das ungehemmte Wachstum der Krebszellen verantwortlich. Ubiquitin-E3-Ligase und die Signalproteine werden über Thalidomid regelrecht aneinandergeklebt.
Während die bisher bekannten molekularen Klebstoffe mehr oder weniger zufällig entdeckt wurden, werden PROTACs gezielt entwickelt. Bei ihnen handelt es sich um Moleküle mit zwei Untereinheiten, die man sich wie Legobausteine vorstellen kann, die über eine kurze Schnur – den sogenannten Linker – miteinander verbunden sind.
Einer der Bausteine besitzt eine Bindestelle für die Ubiquitin-E3-Ligase, der andere für das Zielprotein. Auf diese Weise kann man im Prinzip jedes zelluläre Protein mit jeder Ligase in Kontakt bringen. Allerdings sind PROTACs deutlich größer als molekulare Klebstoffe, daher ist es schwieriger, sie in die Zellen hineinzubringen.
Es hat deshalb rund 15 Jahre gedauert, bis das erste auf einem PROTAC basierende Medikament verfügbar war – ein Mittel gegen Brustkrebs, das seit 2023 in Phase-III-Studien an Patientinnen getestet wird.
Grundlage für neuartige Therapien
Die Entwicklung derartiger Wirkstoffe vorantreiben – das ist das Ziel des von Ðikic´ koordinierten Forschungsverbunds PROXIDRUGS (siehe Kasten).
»Die Idee ist, Experten aus der Rhein-Main-Region und darüber hinaus zusammenzubringen, um das Ubiquitin-System für die Entwicklung neuer Medikamente zu funktionalisieren«, sagt Ðikic´. »Wir sind sehr stolz, dass unser Projekt im extrem kompetitiven Clusters4Future-Wettbewerb als eines von nur sieben aus 137 Projekten für die erste Förderrunde ausgewählt wurde. Gemeinsam mit unseren akademischen und kommerziellen Partnern wollen wir nun die Herausforderungen auf dem Weg zu maßgeschneiderten Wirkstoffen gegen Krebs, neurodegenerative Erkrankungen und Infektionskrankheiten angehen.«
Dazu gehöre es auch, Wege zu finden, wie die Wirkstoffe an ihren jeweiligen Einsatzort kommen, beispielsweise ins Gehirn oder in andere Organe.
Unter anderem wollen die Forscher versuchen, die natürliche Vielfalt der Ubiquitin-E3-Ligasen besser zu nutzen, wie Ðikic´ erklärt: »Von den mehr als 600 Varianten, die in menschlichen Zellen vorkommen, verwenden wir derzeit hauptsächlich zwei.«
Auf den ersten Blick ist das kein Problem, denn die natürliche Spezifität jeder Ligase für bestimmte Proteine wird durch das Wirkprinzip der PROTACs ja gerade aufgehoben.
»Aber die von uns genutzten Ligasen sind auch in gesunden Zellen aktiv«, gibt der Biochemiker zu bedenken. »Ein PROTAC kann deshalb unerwünschte Effekte auslösen.«
Es wäre also besser, eine Ligase zu nutzen, die im Zielgewebe – beispielsweise in bestimmten Krebszellen – deutlich aktiver ist als in gesunden Zellen.
Die Instrumente und Technologien, die für die Suche nach geeigneten PROTAC-Kandidaten genutzt werden, fassten die Forscherinnen und Forscher im »Frankfurt Competence Center for Emerging Therapeutics (FCET)« zusammen. Es wurde als Kompetenzzentrum im Rahmen des »Goethe Center for (High) Technology (Go4Tec)« gegründet.
Das FCET stelle alles zur Verfügung, was im Prozess vom Design der Wirkstoffe bis zu ihrer Validierung im Tiermodell benötigt werde, so Ðikic´. »Entscheidend für unseren Erfolg ist unsere Kultur der Interdisziplinarität und der Teamarbeit«, betont der Biochemiker. »Der disziplinübergreifende Austausch macht unsere Arbeit erst richtig effizient.« So träumt der Forscher bereits davon, den PROXIDRUGS-Cluster in der zweiten Förderperiode noch weiter auszubauen: »Wir möchten unsere Technologie mit der mRNA-Technologie vernetzen, auf der die COVID-19-Impfstoffe der Mainzer Firma BioNTech beruhen, indem wir die Frankfurter PROXIDRUGS-Forscher mit den Mainzer mRNA-Forschern zusammenbringen.«
Proxidrugs / Abbau von Zielstrukturen als neuartiger Wirkmechanismus für Arzneimittel
Der Zukunftscluster PROXIDRUGS entwickelt neuartige Medikamente – sogenannte proximitätsinduzierende Wirkstoffe (proximity-inducing drugs, kurz: proxidrugs) – die gezielt krankheitsrelevante Proteine im Körper abbauen. PROXIDRUGS soll die Infrastruktur und Arbeitsabläufe für das Design, die Synthese, die Charakterisierung und Optimierung von Proxidrugs bis hin zu ihrer Überführung in klinische Studien in einem institutionsübergreifenden Netzwerk etablieren.
Koordiniert wird der Cluster von Ivan Đikić an der Goethe-Universität Frankfurt.
Weitere derzeitige akademische Partner sind die TU Darmstadt, die Universität Heidelberg, das Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie (ITMP) sowie das MPI für Biophysik. Hinzu kommen mehrere Pharmaunternehmen.
PROXIDRUGS wurde in der ersten Umsetzungsphase 2021 bis 2024 durch die Clusters4Future-Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mit insgesamt 14 Millionen Euro gefördert. 2024 konnte PROXIDRUGS bis zu 15 Millionen Euro für die zweite dreijährige Umsetzungsphase einwerben.
Der Verbund, der ursprünglich von drei akademischen Partnerinstitutionen initiiert wurde, ist mittlerweile auf mehr als 20 Partner aus Wissenschaft, biotechnologischer und pharmazeutischer Industrie gewachsen.
Zur Person Ivan Đikić,
Jahrgang 1966, ist Professor und Direktor des Instituts für Biochemie II an der Goethe-Universität Frankfurt. Er absolvierte sein Medizinstudium in Zagreb (Kroatien) und promovierte anschließend an der New York University in Molekularbiologie. Nach einer Station als Gruppenleiter am Ludwig Institute for Cancer Research in Uppsala (Schweden) wechselte Đikić 2002 auf eine Professur für Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Goethe-Universität.
Er war Gründungsdirektor des Buchmann Instituts für Molekulare Lebenswissenschaften (BMLS), an dem er bis heute eine Arbeitsgruppe leitet.
Weiterhin ist er Fellow am Max-Planck-Institut für Biophysik und koordiniert neben dem BMBF-geförderten Zukunftscluster PROXIDRUGS den DFG-geförderten Sonderforschungsbereich 1177 zur selektiven Autophagie und ENABLE, ein Clusterprojekt des Landes Hessen.
2013 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet, der höchsten wissenschaftlichen Ehrung in Deutschland; 2023 erhielt er den Louis-Jeantet-Preis für Medizin für herausragende wissenschaftliche Leistungen auf dem Fachgebiet der Ubiquitinierung.
Die Autorin Larissa Tetsch
hat Biologie studiert und in Mikrobiologie promoviert. Anschließend war sie in der Grundlagenforschung und später in der Medizinerausbildung tätig.
Seit 2015 arbeitet sie als freie Wissenschafts- und Medizinjournalistin und betreut zusätzlich als verantwortliche Redakteurin das Wissenschaftsmagazin »Biologie in unserer Zeit«.