Wie Krebszellen ausgetrickst werden
Der Onkologe Jan-Henning Klusmann erprobt eine neuartige Therapie gegen die tückische Leukämieerkrankung AML.
Krebszellen werden dabei direkt angegriffen, gesunde Zellen aber geschont. Nach erfolgreichen Tests an Mäusen sollen nun Tests an Menschen folgen.Unseren Blutzellen ist kein langes Leben beschieden.
Die weißen Blutzellen (Leukozyten) und die Blutplättchen (Thrombozyten) überdauern gerade 8 bis 12 Tage, auf 120 Tage kommen die roten Blutkörperchen (Erythrozyten). Also muss ständig für Nachschub gesorgt werden, und zwar massenweis
Pro Tag produziert unser Körper daher mehrere Milliarden neuer reifer Blutzellen. Die Blutbildung oder Hämatopoese findet im roten Knochenmark statt, dem weichen, stark durchbluteten Fettgewebe in den Hohlräumen von flachen Knochen (Becken, Wirbelsäule, Brustbein, Rippen) sowie den Enden langer Knochen (Oberschenkel und Oberarm). Ausgangspunkt des mehrstufigen Vorgangs sind multipotente hämatopoetische Stammzellen, die sich zu lymphatischen oder myeloischen Vorläuferzellen entwickeln.
Während aus den lymphatischen Vorläuferzellen eine Untergruppe der Leukozyten (B-, T- und NK-Zellen) wird, entstehen aus den myeloischen dann Erythrozyten, Thrombozyten sowie Granulozyten und Monozyten, zwei weitere Unterarten der Leukozyten.
Ein tückischer Krebs
Manchmal geht etwas schief in der Entwicklung: Die myeloischen Vorläuferzellen mutieren zu Leukämiezellen, die sich unkontrolliert vermehren und gesunde, reife Zellen verdrängen. Schnell herrscht dann ein Mangel an Blutzellen. Die Symptome dieser akuten myeloischen Leukämie (AML) sind Blutarmut, erhöhte Infektanfälligkeit und verstärkte Blutungsneigung. Bei Kindern und Jugendlichen ist sie nach der akuten lymphatischen Leukämie (ALL) die zweithäufigste Form von Leukämie.
»AML ist eine komplexe und aggressive Krebserkrankung«, sagt Jan-Henning Klusmann, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt. »Was sie besonders tückisch macht, ist ihre Fähigkeit, sich schnell in Knochenmark und Blut auszubreiten.« Die Überlebenschance hängt vom AML-Subtyp ab sowie vom Gesundheitszustand der Erkrankten bei Diagnose.
Mit einer intensiven Chemotherapie, der aktuellen, von starken Nebenwirkungen geprägten Standardbehandlung, überleben 60 bis 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen die ersten fünf Jahre nach Diagnose.
Reise durch die Blutbahn
Klusmann will ihre Überlebenschancen erhöhen. Er testet neuartige Therapieformen, die AML effektiver als bisher bekämpfen und Chemotherapien vielleicht sogar irgendwann überflüssig machen. Sein Hoffnungsträger: Ein Wirkstoff, der die unkontrollierte Vermehrung der Leukämiezellen bei AML stoppt, indem er diese genau da angreift, wo sie am empfindlichsten sind, im Zellinnern. Dorthin schickt der Onkologe spezielle RNA-Moleküle, die den Krebs bekämpfen. Verpackt sind sie als fettartige Nanopartikel, die von den Krebszellen gut aufgenommen werden können.
Das Nano-»Paket« aus Fettteilchen und RNA stellt Klusmann im eigenen Labor mit präzisen biotechnologischen Geräten selbst her. Zuerst mischt ein Gerät, das entfernt an einen Standmixer erinnert, Lipide und RNA-Moleküle. Und zwar so, dass die Lipide die Ribonukleinsäuren sicher umschließen – ein ähnliches Prinzip wie bei den RNA-Impfstoffen gegen COVID-19.
Heraus kommen winzige Kugeln von 50 bis 200 Nanometern Durchmesser, tausendmal dünner als ein menschliches Haar. Die Kügelchen müssen jedoch auch die richtigen physikochemischen Eigenschaften für den Transport durch die Blutbahn haben. Daher misst ein Spezialgerät mithilfe von Laserlicht, ob Partikelgröße und Oberflächenladung stimmen.
Dann kann es losgehen: Das Lipid-RNA-Paket wird intravenös injiziert und reist mit dem Blutstrom überall dahin, wo sich Krebszellen im roten Knochenmark breitgemacht haben. Die Lipidummantelung übt dabei eine Doppelfunktion aus: Unterwegs bildet sie eine schützende Hülle um den Wirkstoff, der sonst schnell abgebaut werden würde.
Und am Ziel angekommen, schleust sie die RNA in die Krebszelle ein. Dies geschieht durch den Prozess der Endozytose: Die Krebszelle schließt die andockende Nanokugel in eine Membranblase ein und transportiert sie ins Zellinnere. Die Fetthülle verschmilzt dabei mit den Lipiden in der Membran der Krebszelle. Drinnen wird die RNA dann freigesetzt: Damit ist die wertvolle molekulare Fracht zugestellt, der Wirkstoff kann mit der Arbeit beginnen.
Ausweichmanöver ausgeschlossen
Es handelt sich um eine spezielle RNA, den Tumorsuppressor miR-193b. Es ist ein kleines RNA-Molekül, das zur Gruppe der Mikro-RNAs (miRNAs) gehört. miRNAs können die Aktivität bestimmter Gene drosseln und spielen bei der Regulierung der Genexpression in Zellen eine wichtige Rolle.
»Das Besondere an miR-193b ist, dass es in gesunden Zellen dabei hilft, das Gleichgewicht der Zellteilung und das Wachstum zu regulieren, indem es bestimmte Signalwege unterdrückt, die für die Zellvermehrung wichtig sind«, erklärt Klusmann
Und genau um diese Signalwege geht es.
Denn in Krebszellen sind sie übermäßig aktiv und eine der Hauptursachen für Krebsentwicklung und -ausbreitung. Gleichzeitig ist in den Krebszellen die Konzentration von miR-193b zu niedrig. In Unterzahl kann der Tumorsuppressor den sich teilenden Krebszellen nicht genug entgegensetzen. Mit dem Einschleusen der Nanokugeln wird die Konzentration von miR-193b in den Krebszellen wieder erhöht – und die übermäßige Aktivität der Signalwege so gedrosselt.
Dies führt dazu, dass die Krebszellen absterben oder sich zumindest nicht weiter vermehren. Wichtig dabei: miR-193b greift nicht nur einen einzelnen Punkt innerhalb eines Signalweges an, sondern mehrere Stellen gleichzeitig. »Die Krebszellen können also nicht einfach ihre Signalwege geringfügig anpassen und so der therapeutischen Wirkung entkommen«, erklärt Klusmann.
Das Nanokugel-RNA-Paket bietet viel Potenzial für eine effektive Behandlung von AML, so der Mediziner. Und in puncto Nebenwirkungen hat der Wirkstoff miR-193b klare Vorteile gegenüber Chemotherapien. Es hemmt zwar die Teilung und das unkontrollierte Wachstum der Krebszellen.
»Aber die normalen gesunden hämatopoetischen Stammzellen bleiben unbehelligt, da sie die Signalwege der Krebszellen für ihre Aufgaben kaum brauchen und daher auch kaum nutzen.« Dass die Einschleusung von miR-193b den Krebs stoppen kann, zeigten Tests mit Mäusen. Dabei wurden die Nano-Kugeln Mäusen mit AML intravenös injiziert. Bei allen Tieren verlängerte sich die Überlebenszeit deutlich, einige wurden sogar geheilt.
Jetzt plant Klusmann, die RNA-basierte Therapie in klinischen Studien an Menschen zu testen. Dafür sucht er gerade Kooperationspartner aus der Industrie, die Erfahrung mit klinischen Tests und der pharmazeutischen Entwicklung haben. Das Design bei solchen Tests muss präzise auf den Menschen zugeschnitten sein, betont der Onkologe. Im Vergleich zu Mäusetests seien zudem Aspekte der Immunantwort und mögliche Nebenwirkungen detaillierter zu berücksichtigen.
Neue Entdeckungen mit Multi-Omics
Klusmanns Pläne gehen über die Entwicklung der miR-193b-Therapie hinaus. Dazu will er Daten aus unterschiedlichen »Abteilungen« innerhalb des Genoms zusammenführen, er spricht von einem multi-omischen Ansatz. Dabei nimmt er die Gesamtheit einer solchen Abteilung in den Blick, alle Proteine (Proteom), alle Protein-Apparate, die RNA zurechtschneiden (Spleißosom), und alle Erbgutveränderungen, die nicht die Abfolge der Basen betreffen, das Epigenom.
Das Proteom wird mittels Massenspektrometrie untersucht. »So kommen wir dahinter, welche Proteine in Krebszellen im Vergleich zu gesunden Zellen stärker oder geringer gebildet werden – ein Hinweis auf mögliche Ziele für therapeutische Interventionen.«
Die Spleißosom-Analysen mittels Nanoporen-Sequenzierung gehen in eine andere Richtung. Das Spleißosom ist die molekulare Maschine, welche die kodierenden Abschnitte der RNA »zusammenklebt«, was als Spleißen – englisch: Splicing – bezeichnet wird. »Hier finden wir Veränderungen in der Art und Weise, wie Gene in mRNA umgeschrieben und dann in Proteine übersetzt werden.«
Als Drittes untersucht Klusmann das Egpigenom, die gesamten Veränderungen von Genaktivitäten durch Umweltfaktoren. Solche Veränderungen werden zum Beispiel durch eine andere Packung der DNA hervorgerufen oder durch chemische Modifikationen des Erbmoleküls und können auf diese Weise die Aktivität von Genen beeinflussen, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern.
Die Kombination der Daten aus den drei »Omics« hat schon große Fortschritte gebracht.
»Wir konnten damit einige bisher unbekannte biologische Zusammenhänge aufdecken, die mit der eigentlichen Entstehung von Leukämie zu tun haben.« Klusmann ist sich sicher: Multi-Omics ist genau der richtige Ansatz, weitere neue Therapien gegen AML zu entwickeln, seien es RNA-basierte Therapien oder andere Behandlungsarten. Zudem haben RNA-Moleküle, besonders miR-193b, Allrounder-Qualitäten: Sie eignen sich auch für die Behandlung anderer Formen von Leukämie, vielleicht sogar anderer Krebserkrankungen.
Zur Person Jan-Henning Klusmann,
Jahrgang 1979, leitet seit 2021 die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt. Davor war er zuerst Oberarzt der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie der Medizinischen Hochschule Hannover und Direktor der Kinderklinik I am Universitätsklinikum Halle an der Saale.
Der Leukämieexperte hat in Lübeck Medizin studiert, seine Promotion zum Thema Leukämien baute auf seiner Arbeit am Children’s Hospital Boston auf, einem Lehrkrankenhaus der Harvard Medical School. Klusmanns Forschungsarbeiten haben zahlreiche Preise erhalten, unter anderem der American Society of Hematology und der Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie.
Der Autor Andreas Lorenz-Meyer,
Jahrgang 1974, wohnt in der Pfalz und arbeitet seit 16 Jahren als freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Klimaforschung, erneuerbare Energien, Digitalisierung, Biologie. Er veröffentlicht in Tageszeitungen, Fachzeitungen, Universitäts- und Jugendmagazinen.