Treffsicher ins Ziel
Neue Strategien sollen Wirkstoffe genau dorthin bringen, wo sie gebraucht werden
Das beste Medikament ist völlig nutzlos, wenn der Wirkstoff im Körper nicht dort ankommt, wo er die Krankheit bekämpfen soll. Die Pharmazeutin Maike Windbergs ist Expertin für sogenannte Wirkstoffträgersysteme, die einen zielgerichteten Transport sicherstellen sollen. Für ihre Forschung nutzt sie auch Hirn-, Darm- oder Hautgewebe, das im Labor gezüchtet wird.
Die Wundauflage ist hell und weich wie ein Kosmetiktuch. Dass es sich um ein extrem aufwendiges Hightech-Gewebe handelt, ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Dabei haben die Fasern, aus denen es besteht, es wortwörtlich in sich.
Obwohl gerade einmal ein Fünfzigstel so dick wie ein menschliches Haar, sind sie von innen hohl. Ihre äußere Schicht besteht aus einem synthetischen Polymer namens Polyvinylpyrrolidon (PVP).
Interessanter ist aber der flüssige Kern, den das PVP umschließt. Denn dieser enthält Milliarden von Viren – und zwar ziemlich nützliche: Es handelt sich um sogenannte Bakteriophagen. Sie infizieren nicht menschliche Zellen, sondern Bakterien. Dieser Inhalt ist es, der das Gewebe zu einem Hoffnungsträger für die Behandlung chronischer Wunden macht.
Der Webstuhl, mit dem das Tuch hergestellt wurde, steht im Institut für Pharmazeutische Technologie der Goethe-Universität Frankfurt. Geleitet wird es von der Professorin Maike Windbergs. Sie ist Expertin dafür, Wirkstoffe gegen Krankheiten an die Stelle im Körper zu bringen, wo sie gebraucht werden. »Für die Wundauflage haben wir ein Verfahren genutzt, das sich Elektro-Spinning nennt«, sagt sie.
Hochspannung zieht Polymer zu feinen Fäden auseinander
Dabei wird an eine Düse und eine sich drehende Spindel eine Hochspannung von mehreren Tausend Volt angelegt. Die Polymerlösung, die aus der Düse tritt, wird von der entgegengesetzt geladenen Spindel angezogen. Dadurch dehnt sich der feine Flüssigkeitsstrahl.
Da gleichzeitig das Lösungsmittel verdunstet, entstehen extrem feine Fasern, die auf der rotierenden Spindel aufgefangen werden. »Mit unserer speziellen Spinndüse können wir während dieses Vorgangs die Bakteriophagen in die Fäden einbetten«, erklärt Windbergs.
Wird das so erzeugte Gewebe auf eine Wunde gelegt, werden die Bakteriophagen nach und nach freigesetzt. Das erfolgt über Stunden oder sogar Tage. Die Bakterien, die die Wundheilung verhindern, sehen sich in dieser Zeit also kontinuierlichen Angriffen ausgesetzt.
»Selbst resistente Arten sind diesem dauerhaften Druck nicht gewachsen«, sagt die Pharmazeutin. »Die Hightech-Wundauflagen sind daher ein vielversprechender Ansatz, um solche klinisch kaum zu behandelnden Wunden in den Griff zu bekommen.«
Die 44-Jährige beschäftigt sich bereits seit ihrer Promotion an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit sogenannten Träger- oder Carrier-Systemen. Denn bei der Entwicklung von Behandlungsstrategien gegen gefährliche Krankheiten kommt ihnen eine wichtige Rolle zu: Sie sollen nicht nur sicherstellen, dass Wirkstoffe an den Ort der Erkrankung gelangen, sondern auch, dass sie dort möglichst effektiv sind. In der Pharmazie spricht man auch von Targeting (von englisch target = Ziel).
Das Wort ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Methoden, die mitunter Hand in Hand gehen.
»Wir unterscheiden zwischen passivem und aktivem Targeting«, sagt Windbergs. »Beim passiven Targeting machen wir uns bestimmte Eigenschaften des kranken Gewebes zunutze, um den Wirkstoff dort anzureichern.«
Gut illustrieren lässt sich das am Beispiel der Wundinfektionen: Bei ihnen schaffen sich die verantwortlichen Bakterien ein Milieu, in dem sie besonders gut gedeihen können. Sie senken zum Beispiel den pH-Wert in der Wunde ab.
Zudem werden bestimmte Enzyme ausgeschüttet, die Metalloproteasen. Diese zerschneiden Proteine im befallenen Gewebe und verstärken damit die Entzündung.
In Wunden herrschen andere Bedingungen als in gesunder Haut
»Wir haben in Wunden also eine andere Mikro-Umgebung, als das in der gesunden Haut der Fall wäre«, erläutert die Pharmazeutin. »Und dieses Phänomen können wir gezielt nutzen – etwa indem wir Wirkstoffe in einem Carrier verpacken, der sich bei einem niedrigen pH-Wert besonders rasch auflöst. Oder der durch Metalloproteasen leicht gespalten werden kann.«
Die pathologischen Veränderungen des Gewebes sorgen also dafür, dass der Wirkstoff bevorzugt genau dort freigesetzt wird.
Das aktive Targeting geht sogar noch einen Schritt weiter: Es dirigiert den Arzneistoff ganz gezielt zu bestimmten Zellen oder gar einzelnen Molekülen, die bei der Erkrankung eine wichtige Rolle spielen. Dazu werden die Carrier beispielsweise mit einem molekularen Adressaufkleber versehen. »Oft handelt es sich dabei um einen Antikörper, der an spezifische Zielstrukturen bindet«, erklärt Maike Windbergs. Beide Strategien lassen sich auch kombinieren.
Drug Targeting ist heute ein sehr wichtiger Aspekt bei der Entwicklung neuer Medikamente. Denn dadurch lassen sich mit einer geringeren Menge eines Präparats größere Wirkungen erzielen. Das macht einerseits die Therapie kostengünstiger. Hinzu kommt, dass durch die bessere Zielgenauigkeit das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen erheblich reduziert wird.
Maßgeschneiderte Strategie, je nach Krankheit
Dabei erfordert jedes Pharmazeutikum eine maßgeschneiderte Vorgehensweise.
»Nehmen Sie etwa die RNA-Impfstoffe, die von BioNTech oder Moderna gegen SARS-CoV-2 entwickelt wurden«, sagt Windbergs: »Sie wurden in kleine Fettkügelchen verpackt, die Lipidnanopartikel.«
RNA ist negativ geladen; durch die Verwendung von positiv geladenen Lipiden können die RNA-Moleküle eingeschlossen werden. »Die Ladungen aktivieren das Immunsystem, was bei einer Impfung erwünscht ist.«
Eine Vakzinierung verhindert, dass wir uns mit einem Krankheitserreger anstecken. Mit RNA-Molekülen lassen sich aber auch bestehende Krankheiten heilen. In diesem Fall ist eine starke Aktivierung des Immunsystems nicht unbedingt zuträglich. »Wir müssen also eine ganz andere Verpackung finden, um diesen Effekt zu vermeiden«, betont die Pharmazeutin.
Drug Targeting erfordert also Strategien, die nicht von der Stange zu haben sind. Daher benötigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch geeignete Testsysteme, um die Eignung ihrer Carrier zu überprüfen. Windbergs’ Arbeitsgruppe am Institut für Pharmazeutische Technologie nutzt dazu einerseits menschliches Gewebe, das bei Operationen entnommen wurde.
Voraussetzung dafür ist, dass die Patientinnen und Patienten zuvor ihr Einverständnis gegeben haben. Dazu sind jedoch sehr viele bereit. »Unsere Wundauflagen testen wir zum Beispiel an Hautlappen aus Operationen«, erklärt die Professorin.
Komplexe Gewebe im Labor »nachgebaut«
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen aber auch aus menschlichen Zellen selbst Gewebe her. Ein Beispiel ist die Blut-Hirn-Schranke: Sie verhindert, dass schädliche Moleküle, Bakterien oder Viren aus dem Blutkreislauf durch die Wand der Hirngefäße ins Gehirn gelangen. Die Adern, die unser Denkorgan mit Sauerstoff und Energie versorgen, sind dazu
mit speziellen Endothelzellen ausgekleidet. Sie dichten die Gefäße ab und lassen nur ganz bestimmte Substanzen durch. Dazu arbeiten sie mit weiteren Zelltypen Hand in Hand – auf der Gehirnseite zum Beispiel mit den sogenannten Mikroglia-Zellen, einem besonderen Typ von Fresszellen: Mikroglia-Zellen können Fremdstoffe aufnehmen und verdauen und zählen damit zum Immunsystem.
An der Blut-Hirn-Schranke ist noch eine Reihe weiterer Akteure beteiligt. »Trotz des komplexen Aufbaus der Blut-Hirn-Schranke ist es inzwischen aber möglich, sie im Labor aus verschiedenen Zelltypen zu kultivieren«, erläutert Windbergs. »Und zwar nicht nur die Blut-Hirn-Schranke von Gesunden, sondern etwa auch von Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen wie beispielsweise Alzheimer.«
Man weiß heute, dass bei den Betroffenen diese wichtige Barriere geschädigt ist und durchlässiger wird. Vermutlich sind Bestandteile der Alzheimer-Plaques dafür verantwortlich – das sind die charakteristischen Ablagerungen aus Proteinen und fettähnlichen Molekülen, die sich im Gehirn von Erkrankten in großer Zahl finden.
Windbergs’ Arbeitsgruppe nutzt das künstliche Gewebe für verschiedene Forschungsfragen. »Wir bauen beispielsweise eine intakte Blut-Hirn-Schranke im Reagenzglas nach und untersuchen dann, wie toxisch bestimmte Bestandteile der Plaques auf sie wirken«, sagt die Pharmazeutin. Zudem hilft dieses Modellsystem auch bei der Suche nach einer Strategie, mit der sich potenzielle Wirkstoffe trotz der Barriere in die geschädigten Hirnbereiche bringen lassen.
Körperähnliche Bedingungen schaffen
Darmschleimhaut, Gehirngewebe oder Teile anderer Organe im Labor zu züchten, ist eine komplexe Angelegenheit. Die Versuchsprotokolle, die dabei zu beachten sind, unterscheiden sich von Gewebe zu Gewebe. Häufig müssen einzelne Bestandteile getrennt vorkultiviert werden, jeweils in speziellen Nährmedien und unter spezifischen Bedingungen. Auch beim Zusammenmischen gelten strenge Regeln: Welcher Zelltyp kommt wann hinzu? Und in welcher Menge?
Im Idealfall organisieren sich die verschiedenen Komponenten dann selbsttätig – genauso, wie sie es im menschlichen Körper tun würden.
»Damit das klappt, müssen die Kultivierungsbedingungen aber genau stimmen und denen im Organismus möglichst stark ähneln«, betont Windbergs. So muss bei der Kultivierung einer Dünndarm-Schleimhaut das Nährmedium bewegt werden, damit sich die typischen Fältelungen des Gewebes ausbilden. Der Nahrungsbrei, der durch den Darm fließt, bewegt sich ja schließlich auch. »
Die Zellen benötigen einen gewissen mechanischen Scherstress«, betont die Pharmazeutin. »Allerdings kommt es dabei sehr auf die Dosis an: Wird die Kultur zu stark mechanisch belastet, sterben die Zellen ab.«
Die Zucht menschlichen Gewebes erfordert also ein exakt durchorchestriertes Vorgehen. Die einzelnen Schritte, die dazu nötig sind, wurden oft von Forschenden rund um den Globus in jahrelanger Arbeit optimiert.
Und dennoch lohnt sich dieser Aufwand
Denn mit den so hergestellten Organen lassen sich Fragen beantworten, für die beispielsweise Versuche mit Tieren wenig erfolgversprechend wären. Eine Labormaus ist eben eine Maus. Bei gezüchtetem Gewebe ist das anders: Es besteht komplett aus menschlichen Zellen.
Zur Person Maike Windbergs,
Jahrgang 1980, ist seit 2017 als Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt tätig, wo sie das Institut für Pharmazeutische Technologie leitet. Windbergs hat in Düsseldorf Pharmazie studiert und dort sowie an den Universitäten Helsinki (Finnland) und Enschede (Niederlande) in Pharmazeutischer Technologie promoviert.
Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University in den USA war sie Nachwuchsgruppenleiterin am Helmholtz-Institut für pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) und an der Universität des Saarlandes, wo sie vor ihrem Wechsel nach Frankfurt habilitierte. Für ihre Forschungsleistungen wurde sie mit mehreren hochkarätigen Wissenschaftspreisen ausgezeichnet.
Der Autor Frank Luerweg,
Jahrgang 1969, ist Diplom-Biologe. Er war stellvertretender Pressesprecher der Universität Bonn und arbeitet seit 13 Jahren als freiberuflicher Wissenschaftsjournalist.