Krankengeldfalle: Urteil des Bundessozialgerichts

... ist positiver Zwischenschritt in Richtung einer patientenfreundlicheren Praxis  

Ein Urteil des Bundessozialgerichts stärkt die Position von Versicherten, die aufgrund einer formalen Lücke in der Krankschreibung den Anspruch auf Krankengeld verlieren und dadurch in existentielle Not geraten, sofern die Nichtausstellung der Bescheinigung durch den Arzt verursacht worden ist. Aus Sicht der Patientenberatung sollte nun die Chance genutzt werden, die für viele Versicherte immer noch gefährliche Lücke endgültig zu schließen.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem jüngsten Urteil (AZ B3KR12/16R) festgestellt, dass ein Versicherter, der seinen Arzt rechtzeitig aufgesucht hat, auch ohne Ausstellen einer lückenlosen Krankschreibung den Anspruch auf Krankengeldbezug behalten kann, wenn der Arzt zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen seiner Rückdatierungsmöglichkeit bescheinigt, dass die Arbeitsunfähigkeit durchgängig gegeben war. Aus Sicht der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) ist diese Auslegung ein erster Schritt in die richtige Richtung. Denn bislang hatte die gängige Rechtsprechung das Risiko, durch eine nicht formal durchgängig festgestellte Arbeitsunfähigkeit den Anspruch auf Krankengeldbezug zu verlieren, komplett auf den Patienten abgewälzt. Dadurch hatten viele Versicherte selbst dann den Anspruch auf Krankengeld verloren, wenn sie mit Verweis des Arztes auf eine mögliche Rückdatierung der Arbeitsunfähigkeit die Feststellung nicht lückenlos dokumentieren konnten.

Vor dem BSG war der Fall eines Versicherten verhandelt worden, der bei rechtzeitigem Arztbesuch, aber ohne Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeits-bescheinigung (AU) die AU nachträglich nachgewiesen hatte. Diesen Nachweis hatte der Versicherte mittels einer rückwirkenden AU beigebracht. Zuvor war auch in solchen Fällen in den Vorinstanzen von den Sozialgerichten entschieden worden, dass ohne lückenlose Krankschreibung mit Feststelldatum der Arbeitsunfähigkeit bei Auslaufen einer früheren Bescheinigung der Anspruch auf Krankengeld für den Versicherten vollständig verwirkt sei. Das Urteil stärkt die Position derjenigen, die tatsächlich den Arzt rechtzeitig aufgesucht und gesehen haben, ohne dass eine AU-Bescheinigung am Tag des Besuchs, sehr wohl aber innerhalb der sonst gültigen Frist für eine rückwirkende Attestierung ausgestellt wurde.

Aus Sicht der Patientenberatung ist die Entscheidung des Bundessozialgerichts so immerhin ein erster Schritt zu einem patientenfreundlicheren System und begrüßenswert, weil die Entscheidung auch stärker im Einklang steht mit der Lebenswirklichkeit der Ärzte, denen in dieser Sache bisher detaillierte Rechtskenntnisse und das Wissen über die unterschiedlichen Rechtsfolgen einer rückwirkenden AU-Bescheinigung für ihre Patienten abverlangt werden. Das Gericht ging in seiner Begründung davon aus, dass Ärzten regelmäßig nicht bewusst ist, dass ein rückwirkendes Attest zum Verlust langzeitiger und existentieller Krankengeldansprüche des Versicherten führen kann.

„Das berechtigte Vertrauen der Versicherten in den Versicherungsschutz in Notlagen könnte noch weiter gestärkt werden, wenn der Anspruch auf Krankengeld grundsätzlich an eine nachweisbare Arbeitsunfähigkeit für den Zeitpunkt des Bezugs der Leistung gebunden wäre“, sagt Heike Morris, Juristische Leiterin der UPD. „Entscheidend für den Bezug der Leistungen des Krankengeldes sollte sein, ob ein Versicherter arbeitsfähig ist. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts macht zwar denjenigen Hoffnung, die rechtzeitig beim Arzt waren und noch rechtzeitig nachträglich eine AU-Bescheinigung vorlegen konnten, lässt aber weiterhin unklar, wie mit den vielen Menschen in Deutschland verfahren wird, die, gerade, weil sie aus Krankheitsgründen nicht rechtzeitig zum Arzt gekommen sind, eine Lücke in der Bescheinigung haben.  Der Gesetzgeber hat zwar bereits eine Kulanzfrist über das Wochenende geschaffen, aber weiterhin gilt: Fehlt dem Versicherten darüber hinaus auch nur ein Tag in der Bescheinigung, ist der Anspruch auf Krankengeldbezug verwirkt.“

Aus Sicht der Patientenberatung sollten die gesetzlichen Krankenversicherungen verpflichtet werden, die Versicherten bei Eintreten des Versicherungsfalls explizit darauf hinzuweisen, dass der Bezug von Krankengeld an die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist. „Außerdem sollte der Gesetzgeber die Entscheidung des BSG zum Anlass nehmen, um im Sinne eines patientenfreundlicheren Gesundheitssystems den tatsächlichen Gesundheitszustand des Versicherten zum Maßstab für Bezug von Krankengeld zu machen“, sagt Heike Morris.

Zum Hintergrund:
Der Anspruch auf Krankengeld entsteht nach § 46 des 5. Sozialgesetzbuchs (SGB V) mit dem Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (AU). Er bleibt jedoch nur bestehen, wenn die Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird; Samstage gelten dabei nicht als Werktage. Wer also bis einschließlich Freitag krankgeschrieben ist, muss sich spätestens am Montag eine Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Arzt ausstellen lassen, damit der Anspruch auf Krankengeld nicht verloren geht. Aufgrund der AU-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, an dem die Krankenkassen durch Vertreter mitwirken, ist Vertragsärzten, anders als das Gesetz für den Anspruch auf Krankengeld vorschreibt, eine rückwirkende AU-Attestierung erlaubt.

Über die Unabhängige Patientenberatung Deutschland, UPD
Die UPD Patientenberatung Deutschland gGmbH (UPD) mit Sitz in Berlin ist eine gemeinnützige Einrichtung. Sie hilft Ratsuchenden, sich im deutschen Gesundheitssystem besser zurechtzufinden und Entscheidungen im Hinblick auf medizinische oder sozialrechtliche Gesundheitsfragen selbstbestimmt, eigenverantwortlich und auf informierter Grundlage zu treffen.

Gut erreichbar, bürgernah, qualifiziert: Das Beratungsangebot der UPD
Die unabhängige, neutrale, kostenfreie und evidenzbasierte Beratung der UPD ist für alle Menschen in Deutschland zugänglich – egal, ob sie gesetzlich, privat oder nicht krankenversichert sind. Ratsuchende können die Patientenberatung unkompliziert und auf vielen Wegen erreichen: per Telefon, Post, Mail, oder Onlineberatung, in den 30 festen Beratungsstellen und an weiteren 100 Standorten in Deutschland, die regelmäßig von einem der drei UPD-Mobile angesteuert werden.

Neben medizinischen Fachteams und Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen gehören auch Juristen und Sozialversicherungsfachangestellte zum UPD-Beraterteam.    
Dem gesetzlichen Auftrag (§ 65b des Sozialgesetzbuchs V) entsprechend macht die Patientenberatung über die individuelle Beratung hinaus Politik und Entscheidungsträger auf Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen aufmerksam, unterbreitet Lösungsvorschläge aus Patientensicht und stärkt auf diese Weise die Patientenorientierung im Gesundheitswesen.  

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