Jede Menge Technik für ein selbstbestimmtes Leben im Alter

... die leider keiner kennt

Die Universität Kassel bringt Pflegende und Handwerker, Soziale Dienste und Wohnungsbaugesellschaften zusammen: Berufsbegleitend und mit Universitätszertifikat zum AAL-Berater für Ambient Assisted Living

„Ältere Menschen könnten viel länger sicher und selbstbestimmt in ihrer gewohnten Umgebung leben, wenn sie die richtigen Hilfsmittel dafür nutzten. Die richtige Technik gibt es“, sagt Professor Dr. Ludger Schmidt vom Fachgebiet Mensch-Maschine-Systemtechnik der Universität Kassel. „Wir wollen Berufstätige aus sozialen und technischen Berufen zusammenbringen, damit ältere Menschen ein besseres Leben führen können.“

So wirbt er für ein neues Weiterbildungsangebot zu altersgerechten Assistenzsystemen, das für Interessenten aus ganz Deutschland zum ersten Mal vom 27. bis zum 29. Januar in Kassel stattfinden wird.

Die Teilnehmer qualifizieren sich durch ihre erfolgreiche Teilnahme zum AAL-Berater nach der Anwendungsregel 2757-5 des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE). Das Kürzel AAL steht für Ambient Assisted Living, also für das Leben in der häuslichen Umgebung dank technischer Assistenzsysteme.

Die Teilnahme wird durch die Universität Kassel zertifiziert, und die Kurse werden künftig von der UNIKIMS organisiert, der Management School der Universität Kassel und erfolgreicher hessischer Unternehmen.

Vorbild Autoindustrie:
Der Siegeszug der Assistenzsysteme Ludger Schmidt verweist auf die Automobilindustrie. Sie hat mehr und mehr Assistenzsysteme in die Fahrzeuge eingeführt wie Tempomat, Abstandswarner, Distanzhaltesysteme, Bremsassistenten, Spurhaltesysteme sowie Programme zur Stabilisierung des Fahrverhaltens selbst unter widrigen Bedingungen. Die Industrie warb dafür nicht mit dem Hinweis auf die Defizite der Fahrer und sie stellte die Käufer ihrer teuren Produkte nicht bloß, vielmehr betonte sie die Sicherheit, den Komfort und die technische Überlegenheit der modernen Fahrzeuge.

Die Chancen aufzeigen, nicht mit Defiziten bloßstellen
„Vergleichbare Systeme haben wir in großer Fülle auch für den Haushalt“, sagt Ludger Schmidt und nennt Sensoren, die den Sturz einer Person erfassen, die signalisieren, dass der Herd nicht ausgeschaltet ist, die mit Leuchtstreifen in der Nacht den Weg zur Toilette weisen und die mit einer Simulation des Tageslichts in Innenräumen die Strukturierung des Tages erleichtern. Ludger Schmidt könnte die Liste beliebig fortsetzen.

„Aber es kauft keiner, weil wir zu häufig auf die Einschränkungen der Menschen hinweisen und nicht auf ihre Chancen, länger selbstbestimmt zu leben, und weil die Berater der älteren Menschen, etwa die Pflegenden, die technischen Möglichkeiten nicht kennen, während die Handwerker den Markt und die Bedürfnisse der Älteren nicht kennen.“

Handwerker und Pflegende lernen als Tandem
Darum hat das Fachgebiet Mensch-Maschine-Systemtechnik unter Schmidts Leitung das Weiterbildungsangebot „TAAndem“ entwickelt. Das doppelte „A“ steht für das assistierte Leben und das Wort Tandem für eine Lernmethode, in der zwei Muttersprachler aus zwei verschiedenen Ländern dem jeweils anderen ihre Sprache beibringen.

Ähnlich sollen in der Weiterbildung zum Beispiel Pflegekräfte, Physiotherapeuten und Wohnberater einerseits sowie Handwerker, Techniker und Architekten andererseits voneinander und miteinander lernen, welche Assistenzsysteme es heute schon gibt und wem sie im Alltag helfen könnten, wenn sie nur richtig eingesetzt würden.

Das überzeugt auch die Fachleute.
„Wir werden die alltagsunterstützenden Assistenzsysteme weiter in unsere Wohnkonzepte für ältere Menschen integrieren, wohl wissend, dass diese Assistenzsysteme die Fürsorge und Pflege durch den Menschen ergänzen, und nicht ersetzen“, so Martin Bleckmann von der Evangelischen Altenhilfe Gesundbrunnen, Hofgeismar, und Leiter des nordhessischen AAL-Arbeitskreises.

Teilnehmer der Pilotphase sind begeistert
Ein erstes Pilotprojekt im vergangenen Jahr war ein großer Erfolg. „Die Informationen, die ich während der Weiterbildung bekommen habe, und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind als Ausgangspunkt für die weitere Umsetzung in der Praxis sehr hilfreich“, sagt Michael Sawosch, Orthopädietechnikermeister und Geschäftsführer bei Aktiv-pro in Eschwege.

„Es fanden viele interessante Diskussionen und reger Austausch statt: Der Dialog zwischen Pflege und Technik funktionierte sehr gut“, so Guido Kroll von der Initiative  Selbstbestimmt im eigenen Heim“, Medebach.

Seminar für alle Berufsgruppen rund um den älteren Menschen
Das nächste Seminar im Januar wird von der Carl-Cranz-Gesellschaft e.V. für technisch-wissenschaftliche Weiterbildung im Auftrag der Universität organisiert.

Die folgenden Durchführungen sind Bestandteil des berufsbegleitenden Angebots der Weiterbildungseinrichtung der Universität Kassel, UNIKIMS, die für den 7. bis 8. März und 18. April 2015 einen weiteren Durchlauf geplant hat. Der enthält zwischen den Präsenztagen eine E-Learning-unterstützte Selbstlernphase.

Die Teilnahme an den Seminaren kostet jeweils 490 Euro.

Über weitere Termine wird die UNIKIMS rechtzeitig informieren.

Das Seminar wendet sich an Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Wohnberater, Mitarbeiter von Pflege- und Krankenkassen sowie an Angehörige technischer Berufe wie Handwerker, Architekten, Ingenieure, Informatiker, Medizintechniker und Gebäudeautomatisierer.

Wer helfen will, muss die älteren Menschen verstehen
Die Teilnehmer werden mit der demographischen Herausforderung sowie mit den Krankheitsbildern, den Bedürfnissen und den eingeschränkten Möglichkeiten älterer Menschen vertraut gemacht.

Sie  erfahren zum Beispiel am eigenen Leib, was es heißt, schlechter sehen und tasten zu können, oder mit einem eingeschränkten Bewegungsapparat mit Kehrblech und Besen die Wohnung sauber zu halten.

Die Kursteilnehmer lernen die technischen Möglichkeiten der Assistenzsysteme kennen, befassen sich mit rechtlichen Fragen und mit der Finanzierung der technischen Helfer. Sie trainieren im Tandem unterschiedlicher Berufsgruppen ihre Beratungskompetenz, ihre Fähigkeit, die AAL-Systeme zu verstehen und deren ethische Komponente zu erfassen.

Weitere Informationen und eine Anmeldemöglichkeit bis jeweils 2 Wochen vor den Seminaren finden Sie unter www.taandem.de